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Die Briefschreiberin

Bitte, verbrennen Sie diesen Brief! Ich möchte um alles nicht, dass diese letzten Worte in der Welt blieben.

An Elise Rüdiger, 4. Januar 1844

Sie blieben in der Welt, die Bemerkungen über ihre Mutter, die Droste in diesem Brief an die enge Freundin geäußert hatte. Elise Rüdiger kam der Aufforderung der oft (über-)vorsichtig wirkenden Dichterin, ihre Briefe zu vernichten, nicht nach; manch andere taten es, wie Amalie Hassenpflug,mit der Annette von Droste-Hülshoff eine Freundschaft, möglicherweise auch romantische Liebe verband.

Brief-Geheimnisse: Die Familie liest mit

Liebesbekundungen? Eitelkeiten? Lästereien über Dritte? Wie heikel manche Inhalte tatsächlich waren, lässt sich kaum nachvollziehen. Zumal heutige Leserinnen und Leser vieles als völlig unverdächtig empfinden dürften, was zu Droste-Zeiten und in Droste-Kreisen als kompromittierend galt.

Für eine katholische Adelstochter der Biedermeierzeit gab es so manches, was die Korrespondenz „gefährlich“ machen konnte. Es genügten schon sprachliche Zeugnisse der Vertrautheit, insbesondere mit Levin Schücking, dem 17 Jahre jüngeren Freund:

Liebes Herz, wundere dich nicht, wenn ich Dich fortan S I E nenne und dich um ein Gleiches bitte, die gefährliche Zeit unserer Correspondenz fängt jetzt an, und es ist mir zu empfindlich, alle deine lieben Briefe des „Dus“ wegen verbrennen zu müssen …

An Levin Schücking, 7. Juli 1842

Annette von Droste-Hülshoff schickte diese dringliche Bitte aus Meersburg, wo sie als Gast ihrer Schwester und deren Familie nicht ganz so beobachtet fühlte wie daheim im Rüschhaus. Doch nun stand ihre Heimreise ins Münsterland bevor, zurück unter die wachsamen Augen ihrer Mutter Therese.

Was die Korrespondenz so „gefährlich“ machte: Die Familie las wie selbstverständlich mit. Briefgeheimnis? Nicht zur Biedermeierzeit, als Briefe nicht nur Sammel-, sondern auch so etwas wie Allgemeingut waren. Man erwartete regelrecht, dass sie im Kreise der Verwandtschaft vorgelesen oder herumgezeigt wurden.

Aber Annette von Droste wusste sich zu helfen. Hatte sie Privates mitzuteilen, schrieb sie einen „Brief im Brief“, den die Adressatin oder der Adressat leicht herausnehmen und somit das offizielle Schreiben sorgenfrei mit anderen teilen konnte. Beschriftet wurde die „Einlage“ mit „Lies dies für dich allein“ oder „Für dich allein zu lesen“.

Ich werde, in Zukunft, in die Briefe an dich immer ein loses Blatt einlegen, um darauf zu schreiben, was nicht Jedermann wissen soll, denn ich weiß wohl, daß Mama sie der ganzen Welt vorlesen wird ..

An Schwester Jenny, 23. September 1840

Gegen alle Widerstände der Zeit gelang es Droste so, sich ein Stück Privatsphäre zu erkämpfen.

Verlorene Briefe: Umfang der erhaltenen Korrespondenz

Cornelia Blasberg nennt im „Annette von Droste-Hülshoff Handbuch“[1]Cornela Blasberg/Jochen Grywatsch (Hrsg.): Annette von Droste-Hülshoff Handbuch. De Gruyter, 2018 konkrete Zahlen: Demnach gelten heute 270 Droste-Briefe als erhalten. Anhand von überlieferten Eingangsbestätigungen und von Verweisen in der erhaltenen Korrespondenz konnten die Bearbeiterinnen und Bearbeiter der HKA, der 28-bändigen Historisch-kritischen Ausgabe[2]Annette von Droste-Hülshoff. Historisch-kritische Ausgabe. Werke, Briefwechsel. Hg von Winfried Woesler, Niemeyer, 1978-2000, die auch den hier veröffentlichten Briefauszügen zugrunde liegt, 154 weitere Droste-Briefe rekonstruieren, von denen man teilweise nur weiß, dass es sie gegeben hat, teilweise aber auch Inhalte herleiten kann.

Doch geschrieben hat Annette von Droste mehr Briefe. Sehr viel mehr. Das ist unter anderem aus ihren und auch aus den Briefen ihrer Adressatinnen und Adressaten zu schließen.

Der Literaturwissenschaftler Walter Gödden, der in seinem Buch „Die andere Annette“[3]Walter Gödden: Die andere Annette. Annette von Droste-Hülshoff als Briefschreiberin. Schöningh, 1992 eine detailreichen Blick auf „Annette von Droste-Hülshoff als Briefschreiberin“ wirft, schätzt die erhaltene Korrespondenz auf etwa zehn Prozent. Zu diesem Ergebnis kommt auch Jochen Grywatsch, ehemals Leiter der Droste-Forschungsstelle, der an der HKA mitwirkte und das Droste-Portal aufbaute: Der Droste-Experte geht davon aus, dass 90 Prozent der Korrespondenz der Dichterin verloren sind.

Erhalten blieben vor allem Familienbriefe. Noch ein paar Zahlen aus dem Droste-Handbuch: 174 Verwandtenbriefen existieren demnach noch, davon 84 an die engere Familie.

Äußerst lückenhaft ist dagegen der Bestand an Briefen an wichtige Menschen außerhalb der Familie. Von den Briefen an die Freundinnen Amalie Hassenpflug, Sibylle Mertens-Schaffhausen, Wilhelmine von Thielmann, Adele Schopenhauer, teilweise auch an den Freund Levin Schücking, überdauerten nur wenige die Zeit – und die Zensur, die zum einem durch die Verfasserin selbst betrieben wurde, zum anderen aber auch durch einige Nachfahren und frühe Droste-Forschende.

Gleichwohl! In den erhaltenen Briefen zu stöbern, der Schreiberin gleichsam über die Schulter zu schauen, wenn sie in ihrem Jugendzimmer auf Burg Hülshoff, am Schreibtisch oder am Tisch vor dem schwarzen Kanapee in ihrem Zimmer in Rüschhaus, in ihrem Turmzimmer in Meersburg oder in einem der Gästezimmer bei der Verwandtschaft am Rhein, im ostwestfälischen Bökerhof oder Abbenburg die Feder ansetzte, um einer Freundin wie Elise Rüdiger, einem Mentor wie Christoph B. Schlüter, dem Schützling und Unterstützer Levin Schücking, einem Verleger wie Cotta, vor allem aber ihrer Mutter Therese, ihrer Schwester Jenny oder einer der vielen Tanten und Onkel über Alltagsereignisse und Familienangelegenheiten, über Neuigkeiten aus dem weitläufigen Bekanntenkreis berichtet, über – nicht ganz so oft – ihre schriftstellerische Arbeit oder – noch seltener – über politische Themen und Vorgänge: Bei einer Erzählerin wie Annette von Droste, die stets viel Zeit und Mühe in „gute Briefe“ investierte, ist das durchaus lohnenswert. Und auch diese Seite tritt in den Briefen zutage: Annette von Droste-Hülshoff, die Verfasserin der „Judenbuche“, bediente sich in privater Korrespondenz auch antisemitischer Klischees.

Ja, es stimmt schon: Annette von Droste-Hülshoff wäre entsetzt, stolperte sie beim Surfen im Internet (und ja: sie würde im Internet surfen) über diese Website und sähe ihre Briefe, mitsamt mancher „Einlage“, öffentlich vor aller Welt ausgestellt.

Nun, was soll ich sagen? Verzeihen Sie mir, Annette von Droste-Hülshoff. Aber ich bin überzeugt, dass die Welt Sie auch als Briefschreiberin kennenlernen sollte. Ihre intimsten Geheimnisse, da bin ich sicher, haben Sie ohnehin eigenhändig den Augen der Nachwelt entzogen.

Sehr ernst und eigen gestimmt bin ich auch; denn ich habe gestern und heute bis Mittag Papiere durchgesehn und verbrannt, und damit manches Stück Vergangenheit hinter mir geworfen, was, freilich schon seit Jahren mit Gras bewachsen, doch unter dem Lesen wieder so frisch aus dem Grabe stieg, dass ich wollte, ich hätte lieber blind zu gebrannt, dann wäre es wenig gewesen – jetzt ist’s mir wie ein halber Mord.

An Elise Rüdiger, 2. September 1842

Gesundheit, Beruf, ein wenig Politik – und Tratsch: Die Themen der Briefe

Die vielen erhaltenen Familienbriefe erfüllen vor allem eine Funktion: Sie dienen der Berichterstattung über alles, was in Haus, Hof, Nachbarschaft, naher und weitläufigerer Verwandtschaft vorgefallen ist. Das eigene Befinden wird beschrieben (in Briefen an die abwesende Mutter eher beschwichtigend – „Uns geht es gottlob wohl“ –, während Droste gegenüber Freund:innen deutlicher wird – … „habe mich halbtot gehustet“), die Krankheits- und Todesfälle im Verwandten- und Bekanntenkreis nehmen breiten Raum ein. Droste zählt die Geburten auf, notiert, wie sich die Kinder ringsherum entwickeln, beurteilt Charaktereigenschaften, Intelligenz und Fertigkeiten, taxiert Heiratschancen, kommentiert Versuche, Erfolge und Scheitern beim beruflichen Fortkommen und im Privatleben anderer. Die Mutter wird akribisch auf dem Laufenden gehalten – darüber, wie alles im gemeinsam bewohnten Rüschhaus steht, wenn Therese abwesend ist, und darüber, was Annette erlebt und wem sie begegnet, wenn sie selbst auf Verwandtschaftsbesuchen etwa am Rhein aufhält.

Um aktuelle politische oder gesellschaftliche Ereignisse geht es in den Droste-Briefen weniger. Die „Kölner Wirren“ sind hin und wieder Thema, nicht zuletzt, weil der darin verwickelte Kölner Erzbischof Clemens August von Droste-Vischering weitläufig mit der Familie Droste-Hülshoff verwandt ist. Der Kölner Kirchenstreit, in dessen Zuge der Bischof vom preußischen Staat verhaftet wird, dreht sich um die „Mischehen“-Regelung: Droste-Vischering besteht entgegen einer Anordnung König Friedrich Wilhelms III. darauf, dass die Kinder gemischtkonfessioneller Paare katholisch getauft werden. Viele der zutiefst katholischen Adelsfamilien, auch in der Familie Droste-Hülshoff, ergreifen Partei für die Haltung des Erzbischofs. Annette von Droste-Hülshoff hält sich mit einer Positionierung im Kirchenstreit zurück, verurteilt aber mehrfach das harsche Vorgehen der Preußen.

Über ihre literarische Arbeit berichtet Annette Droste in den Familienbriefen nur selten, am ehesten noch ihrer Verbündeten, der Schwester Jenny. Die inhaltliche Beschäftigung mit ihren Texten nimmt dagegen in Briefen an Christoph B. Schlüter, Anton Sprickmann und Wilhelm Junkmann – Menschen, die ihren Werdegang als Dichterin begleiten – breiteren Raum ein. Mit Freundinnen und Freunden wie Levin Schücking, Adele Schopenhauer, Sibylle Mertens, aber auch mit ihrem Schwager Joseph von Laßberg korrespondiert sie über geeignete Verlage zur Publikation ihrer Werke.

Anteilnahme und Förderung zwischen Droste und Schücking war gegenseitig: Ende der 1830er, Anfang der 1840er Jahre lässt die Dichterin kaum etwas unversucht, ihrem Schützling eine Stelle zu verschaffen, und schreibt in dieser Angelegenheit viele Briefe.

References
1 Cornela Blasberg/Jochen Grywatsch (Hrsg.): Annette von Droste-Hülshoff Handbuch. De Gruyter, 2018
2 Annette von Droste-Hülshoff. Historisch-kritische Ausgabe. Werke, Briefwechsel. Hg von Winfried Woesler, Niemeyer, 1978-2000
3 Walter Gödden: Die andere Annette. Annette von Droste-Hülshoff als Briefschreiberin. Schöningh, 1992
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