Mein lieb lieb Lies!
Ich wage es, einen Brief an Sie anzufangen — jeden Tag einige Zeilen, da muß es doch endlich Etwas geben. Mein Gott! wie ist doch in Münster die Trennung der Gesellschaften so groß! Daß auch nicht einer Ihrer Bekannten erfahren hat, wie elend krank ich gleich nach meiner Mutter Abreise geworden bin, und daß nur die äußerste Noth, die allerseitige Ueberzeugung, daß ich in diesem Zustande keinem westphälischen Winter entgegen gehn dürfe, meine nachträgliche Reise, wie alles Nothwendige, auch möglich gemacht hat — denn Sie müssen wissen, daß ich Hülshoff in einem Zustande verlassen habe, wo ich keine halbe Stunde außer dem Bette seyn konnte, ohne ohnmächtig zu werden. Doch gieng die Reise leidlich; hier brach aber das Uebel erst recht los, ich bin mehrere Monate völlig bettlägerig gewesen, und noch immer sehr schwach. Dies ist mein erster Versuch zum Schreiben, doch ich habe bis zu Ihrem anberaumten Geduldstermin noch viele Zeit vor mir, noch fast vier Wochen, so hoffe ich sogar etwas weitläufig werden zu können.
Ja, lieb Herz, alle meine schönen Träume von Rüschhauser Einsamkeit, Harfenruhe und Abendrot haben kaum ein paar Tage lang einen schwachen Anlauf zur Realität nehmen können, dann war es vorbey. Die Spannung der letzten Zeit hatte mich aufrecht erhalten, und nun fiel ich zusammen wie ein Taschenmesser. Miserabel! 6-7 Mal im Tage Erbrechen — ein erstickender Husten und Schleimandrang — immer Fieber — kein Schlaf. Der gute Kühnast, der wenige Minuten vor Mamas Abfahrt nach Rüschhaus gekommen und somit, da wir alle zu verwirrt und angegriffen waren, um unsre Worte zu wägen, hinter das Geheimniß des Inkognitos gekommen war, mußte sich dennoch behandeln lassen, als sey von Allemdem nichts passirt, ich ließ ihm nämlich in der nächsten Woche sagen, „er möge mir keine Bücher mehr schicken, da ich sogleich nach Hülshoff abfahren werde“ — und er hat’s geglaubt, was mir sehr lieb war, denn ich hätte ihn sehr ungern beleidigt, und noch unlieber weh getan, und war doch viel zu elend, Besuche anzunehmen, am Wenigsten von Herrn.
Werner, dem ich Nachricht von meinem Befinden geschickt und dem sein armes Bein nicht zu kommen erlaubte, schien, bedeutend ungläubiger (kein Prophet in seinem Vater-Lande respektive -Hause!), alles für Schulkrankheit zu halten (Hülshoff hier die zu schwänzende Schule), und rieth Diät, Verlassen der Einsamkeit und vor Allem Bewegung an. An letzterer habe ich mich dann auch in der ersten Zeit halb tot exercirt, bis ich umfiel, und endlich das Bett völlig hüten mußte. Ach, lieb Lies, da war Rüschhaus gar kein liebes heimliches Winkelchen mehr! Ich sah den ganzen Tag nur die niedrigen Balken meines Schlafzimmers, und außer dreymahl im Tage sah keine Seele nach mir, da die Erndte im Gange war, und auch die Köchin viel daran half — sonderlich Nachmittags, wo sich das Gemüse-Aufwärmen und Saure-Milch-Aufsetzen in einer Viertelstunde abmachen ließ, war von eins bis sieben das Haus ringsum verschlossen, ich mutterseelen allein darin, fiebernd und würgend, bedurfte ich etwas Unvorhergesehenes, so mußte ich aus dem Bette klettern und mir selber Rath schaffen, oder, wenn ich grade im Fieberschweiß lag, geduldig aushalten bis zur Erlösungsstunde.
Ich habe dies in meinem Eremitenleben sonst auch schon mitgemacht, aber nicht krank — dann freute ich mich dieser tiefen Einsamkeit, da mir Küche und Keller ja offen standen und ich im Nothfalle an der steinernen Gartenbank meine Leute sehr leicht errufen konnte, aber jetzt kam ich mir oft vor wie ein armer Soldat, der sich auf dem Schlachtfelde verblutet. Freylich war das meine eigne Schuld, ich hätte ja nur Jennchen oder Anna zu Hause behalten können, aber die Leute sahen alle so eilfertig aus, rannten und schnauften so furchtbar, daß es mir gar nicht einfiel, Jemand dem großen Werke zu entziehen. Lieber ging ich nach Hülshoff — nicht ohne Scheu vor Gottes neunfachem Segen dort.
Werner und Line empfingen mich an der Treppe jubelnd und spottend, daß die Langeweile mich endlich hergetrieben, wurden aber mäuschenstill, als ich so elend aus dem Wagen stieg, und nach einigen Minuten im Wohnzimmer ohnmächtig wurde. Man brachte mich gleich in meine Stube, und ich kann nichts Anderes sagen, als daß ich bis zu meiner Abreise die sorgsamste zärtlichste Pflege dort genossen habe, doch ohne Erfolg für meine Gesundheit, da zu allem anderen noch die Cholerina[1]Cholerina: Krankheitszustand, der als Vorstufe zur Cholera betrachtet wird, begleitet von Erbrechen und Schweißausbrüchen kam, und endlich in eine vollständige Blutruhr[2]Blutruhr: blutiger Durchfall überging. Sie können denken, wie mir nun erst völlig elend wurde. Werner riß sich fast die Haare aus dem Kopfe, daß ich keine Arznei nehmen wollte, und als die letzte schlimme Krankheitszugabe sich später verloren hatte und ich nun täglich etwa eine halbe Stunde aufsitzen konnte, kam meine Reise denn zur Sprache.
Ich sagte „nach Meersburg!“
Werner meinte, „er wolle froh sein, wenn er mich nur bis Bonn hätte, dort sei auch schon Bergluft und sehr geschickte Aerzte“. Der arme Schelm war ganz betrübt, Reisen schien ihm eigentlich unmöglich, und Bleiben noch schlimmer. Er gab mir seinen Heinrich mit (der grade in den Münchner Ferien dort war) und fuhr selbst mit bis nach Münster, um zu sehn, wie mir das Fahren bekomme, aber das Rütteln tat mir wohl. In Münster legte ich mich gleich zu Bette und ließ Schlüters herüber bitten, nach deren Fortgehn ich dann zu Nanny und Luischen schicken wollte (es war fast finster, wie ich ankam), stattdessen kam Rosine Wintgen, die mich hatte vorüber fahren sehn, um mir aus Briefen ihrer Valencienner Schwestern endloses Lob der Meersburger mit auf den Weg zu geben, mir die Anzeige des „Rheinischen Jahrbuchs“ zu bringen, und mich zu bitten, Maßregeln zur Unterdrückung meiner „Charakteristik“ bey lebendigem Leib zu ergreifen – mir war dieser Gedanke ebenfalls höchst widrig an sich und gewiß allen den Meinigen ein gräulicher Skandal, so ärgerte ich mich tüchtig.
Schlüter kam allein mit seinem Vorleser, die Wintgen ging — und nun war es so spät, daß ich nicht mehr daran denken konnte, Nanny und Luischen noch herzubescheiden, so trug ich denn Schlütern auf, ihnen alles Liebe und Herzliche von mir zu sagen, und auch sonst alles — daß ich fort müsse, wie krank ich sei, wie gern ich sie noch gesehn hätte – und das alles möchten Sie Ihnen berichten, mit dem Zusatze, „daß Sie sich nicht wundern dürften, vielleicht ein halbes Jahr lang keinen Brief von mir zu erhalten, da jedes Bücken mir Erbrechen zuwege bringe, und das Uebel jetzt viel zu dezidiert auftrete, als daß ich es noch ferner braviren dürfte, so daß ich, bestenfalls, einer langen strengen Kur entgegen sehe“. Es scheint, Schlüterchen hat Alles vergessen und mich wahrscheinlich gar nicht so krank gefunden, da er mich ja nicht sehn konnte, und ich zum Abschiede lebhafter sprach als mir gut war. Auch für Kühnast gab ich ihm einen Gruß und Dank für so manche Gefälligkeit mit — wird auch wohl nicht angekommen seyn! Doch ich muß mich kürzer fassen.
Der Weg bis Bonn wurde mir recht schwer, hätte ich den Heinrich nicht bey mir gehabt, der mich fortwährend im Arme hielt, und überhaubt pflegte wie eine Wartfrau, ich wäre im ersten besten Dorfe liegengeblieben, er verließ mich mit der Ueberzeugung, daß ich in Bonn bleiben werde, was auch Pauline, deren Empfang rührend herzlich war, als ausgemacht annahm.
Ich blieb fast 14 Tage in Bonn.
Schückings ließen zu meiner großen Erleichterung nichts von sich hören, obgleich fast unmittelbar, nachdem ich angekommen, meine Ankunft und wahrscheinlich längerer Aufenthalt in der (ich glaube gar Cölner Zeitung) stand. Reden hört ich aber mitunter von ihnen, Sie wird schön gefunden und in jedem Betracht bedeutender als Er, beliebt scheinen Beyde nicht, sie gelten für kalt, aufgeblasen, und man zuckt sehr bedenklich die Achseln über ihren gewaltigen Aufwand. Als Autoren betrachtet scheint Cottas gegen sie ausgesprochene Ansicht auch am Rheine die allgemeine zu seyn.
Mir wurde in Bonn besser, oder wenigstens bequemer, die inneren Krämpfe fingen an sich, nach Fieberart, auf gewisse Stunden zu beschränken, wo sie freylich um so ärger handthierten, ich gewann aber freye Zeit, wo ich sogar aufstehn und Besuche sehn konnte. Junkmann besuchte mich dreymal — Sie haben Recht, er ist der alte reine Charackter geblieben, aber ich fürchte, er geht bürgerlich zugrunde; er hat jeden Gedanken an ein Doctor-Examen und überhaubt eine feste bürgerliche Stellung aufgegeben und exaltirt sich in der Idee, als freyer Litterat die Hydra des Zeitgeistes zu bekämpfen — freyer Litterat! das ist die grade Straße zum Bettelstabe! wenigstens für ihn, dem Fruchtbarkeit und populäre Schreibart so gänzlich fehlen, gewiß!
Ich machte ihm die beweglichsten Vorstellungen, auch von Schlüters Seite, der mich eigens dazu beauftragt, „doch zuerst, und zwar gleich, ehe er Alles vergessen, sein Examen zu machen, um jedenfalls einen Broderwerb im Hinterhalte zu haben“, er lachte aber so krampfhaft und wild, daß es mich ordentlich grauste, und rief: „Hoho! Brodstudium! Das sind mir die rechten Philister! Da erkenne ich das echte münsterische Pfahlbürgerthum, wo ihr noch Alle bis über die Ohren dadrin steckt! Ich bin aber seitdem mit vielen andern Leuten umgegangen und längst weit darüber weg. Im schlimmsten Falle kann ich ja alle Tage Kapuziner werden.“ Dann zog er einen Fünf-Thalerschein aus der Tasche und sagte: „Sehn Sie, das ist alles Geld, was ich noch habe, aber das macht mir nichts!“ Und nun gieng das krampfhafte Lachen und Herzählen seines künftigen glorreichen Wirkens, und wie er alles zu Boden donnern wolle, wieder an. Muss einem da nicht bange bey werden? Ich fürchte, wir erleben noch traurige Dinge an ihm! Es ist nicht möglich, das ein Körper dieser ewigen Aufgeregtheit, diesem furchtbaren Andränge von Ehrgeiz und Ueberspannung auf die Dauer widerstehn kann.
Ich bat ihn, zu Kinkel zu gehen, die bewuste Charackteristik im Manuskripte zu durchlesen und, falls sie nicht discreter sei, als sich überhaubt von der Charackteristik einer noch lebenden Person erwarten lasse, Schücking in meinem Namen um Unterdrückung derselben zu bitten. Er theilte meine Ansicht von dem Widrigen dieser Schaustellung, gieng aber keineswegs zu Kinkel und antwortete mir jedesmal ganz ruhig: „Ja! Sieh! Da habe ich nicht an gedacht!“, bis fast 14 Tage darüber verflossen, wo er mir dann eben so ruhig die Nachricht brachte, „er sei um ein Geringes zu spät gekommen, die Charackteristik komme eben aus der Presse“. An Entschuldigen dachte er nicht, war aber übrigens mitunter warm und herzlich wie immer, und nahm sehr bewegt Abschied von mir, als ich den scheinbar tollen Entschluß ausführte, ganz allein die weite Reise nach Meersburg zu unternehmen.
Ich fühlte mich sehr krank, glaubte nicht an Besserung und wollte bey den Meinigen sterben. (…)
Meersburg, 4. – 16. Februar 1847
Liebes Mütterchen!
Ich weiß wohl, weshalb Sie mir nicht schreiben: Sie meinen, Sie müssten mir einen ganz langen Brief schreiben, wenigstens eine Seite Entschuldigung und Erklärung, weshalb Sie nicht geschrieben, und das Schreiben greift Sie an. Das sollen Sie aber nicht – nur ein paar Worte, wie es Ihnen geht, und dass Sie uns nicht ganz vergessen haben.
Meine Luise hat mich mit einem Töchterchen beschenkt. Diesmal ist es rascher und leichter gegangen als das erste Mal. Luise hat sich auch ziemlich wieder erholt und ist schon wieder auf. Das Kindchen ist sehr hübsch und stark und gesund und heißt Gerhardine nach der Tante in Kiel, die Pate ist.
Junkmann war gestern bei uns, er war lustig und wohl. Der Minister hat ihm zu Weihnachten vierzig Taler zum Ersatz seiner Kosten in der Wasserkuranstalt in Rolandseck geschenkt.
Wir leben den einen Tag so wie den anderen, in stiller Häuslichkeit – insoweit eine Häuslichkeit, die zwei kleine Schreihälse beleben, still genannt werden kann. Ich habe ein neues Lustspiel geschrieben: Drei Landesväter oder die Belagerung von Graßlingen betitelt, das in den nächsten Tagen hier gegeben wird.
Fr. Dingelstedt hat einen Artikel über mich in der Allgemeinen Zeitung geschrieben, den ich Sie einmal sich zu verschaffen bitte, in Nr. 6 und 7 laufenden Jahres.
Sie werden an Arbeiten während des Winters nicht viel haben denken können, nicht wahr, mein armes Mütterchen? Darum habe ich Sie auch nicht um Beiträge für mein Feuilleton geplagt.
Ich hoffe, dies Blatt, das voll der wärmsten Anhänglichkeit in die Einsamkeit von Rüschhaus flattert, trifft Sie möglichst wohl, sonst kommen Sie – fort aus schädlicher Luft – zu uns, die wir Sie treulich pflegen wollen!
Ihr alter Levin
Köln, 6. Februar 1846